Das Polcevera-Tal
Wenn man vom Norden her Genua erreicht, durchfährt man nach dem Straßen- oder Eisenbahntunnel Giovi zu allererst das Tal Polcevera.
Heute bietet sich ein nicht besonders reizvoller Anblick, aber auch diese Entwicklung hat ihren Ursprung in der natürlichen Funktion dieses Tals als Durchzugsgebiet. Schon im ältesten Dokument genuesischer Geschichte, der Tavola di Polcevera, (117 v. Chr.), die im Jahr 1506 wieder aufgefunden wurde und heute im Büro des Bürgermeisters im Palazzo Tursi aufbewahrt wird), ist ein in Bronze eingravierter, römischer Schiedsspruch überliefert, der einen Streit zwischen den «Genuates» und den «Langenses» beilegt.
Daraus ist die große Bedeutung ersichtlich, die die «Via Postumia» (sie überquert den Apennin über den Paß Boc-chetta) für die Stadt Genua und für die nahe der Paßhöhe (Langasco) ansäßigen Stämme hatte; diese versorgten Genua mit Viehfutter und Lasttieren.
Sogar in den vergangenen Jahrhunderten waren viele Bewohner dieses Tals noch Maultiertreiber. Auch die mit dem Hafen verbundene, massive Industrialisierung des Tals begann sehr früh: Mühlen, Eisenwerke, Walkmühlen fügten sich dort und da zwischen Kirchen und Reben, aus denen ein angenehm herber, wenn auch etwas rustikaler Weißwein hergestellt wird (Corona-ta, San Cipriano).
Erst spät errichteten adelige Familien auch hier repräsentative Palazzi; die üblichen Villen des Polcevera-Tals waren meist einfache Landhäuser mit einem Obst-und Gemüsegarten, Weinbergen und Feldern, jeweils in gleicher Ausdehnung.
Eine Chronik aus dem 15. Jahrhundert berichtet von einem regelrechten «Pendlerverkehr» zwischen der Stadt und diesem Landstrich-. «Und dann durchquerst du das Tal des Flusses Polcevera bis nach Genua; hier haben viele Stadtbewohner ihr Landhaus, mit wenig Boden, eigentlich nur Gärten, die alle von hohen Mauern umgeben sind.
Zwischen all diesen Mauern hat man den Eindruck, in einem Labyrinth zu sein. Um die Mittagszeit oder gegen Abend kommen sie alle mit ihren Maultieren in ihre Gärten und dann kehren sie wieder in die Stadt zu ihren Geschäften zurück...».
Ab 1773 veranlaßte der Doge G.B. Cambiaso den Bau einer Straße längs des Maultierwegs von San Pier D'Arena nach Certosa, Rivarolo und Bolzaneto, um seinen Palazzo in Cremeno bequem mit seiner Kutsche erreichen zu können. Kartäuser- und Benediktinerklöster gewährten den Reisenden aus dem Piemont und der Lombardei Unterkunft; später wurden die berühmtesten Gäste der Republik, Kaiserinnen, Herzöge und Grafen vor ihrem feierlichen Einzug in die Stadt in der Villa Imperiale Casanova in Campi (fast an der Mündung des Flusses) empfangen.
Diese Villa (16. Jh., Corso Perrone Nr. 15) dient heute einem Forschungszentrum für die Eisen- und Stahlindustrie.
Eine Fahrt durch das Tal Polcevera ist heute sicher nicht mehr reizvoll, wenn auch dieses Gebiet in den Jahren der industriellen Revolution eine gewisse Faszination ausstrahlte und von Malern und Fotografen verewigt wurde.
Der historische Weg des Dogen G.B. Cambiaso wurde über den Paß Giovi (472 m) nach Ronco und Arquata weitergeführt, gemäß der napoleonischen Straßenplanung, die 1823 vom Königreich Sardinien fertiggestellt wurde.
Dazu kam ab 1853 eine Eisenbahnlinie, die ab San Pier d'Arena von der Küstenlinie in Richtung Riva-rolo abzweigt.
Der erste kunsthistorisch relevante Komplex im dicht bewohnten Viertel Certosa ist das Kloster San Bartolomeo della Certosa, das heute im Gewirr der Straßen und Häuser fast erstickt.
Es verdankt seine Gründung zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert dem kulturellen Einfluß des lombardischen Kartäuserordens, obwohl es unter der Schutzherrschaft der Familie Di Negro stand und die Familien Doria und Spinola hier ihre Kapellen hatten.
Der älteste Kreuzgang weist noch gotische Bogen auf, der darauffolgende größere stammt aus der Renaissance. Durch den Verfall der Kirche gingen viele Kunstwerke verloren, darunter zwei Portale, die in einem Londoner Museum aufbewahrt werden.
Die ehemalige Villa Durazzo-Pallavicini im Zentrum von Rivarolo (Via Rossini Nr. 27) wird als Gemeindehaus genutzt, obwohl die Freitreppen an der Fassade noch ein ländliches Milieu heraufbeschwören.
Längs des linken Ufers des Polcevera führt die Straße durch Teglia, Bolzaneto, San Quirico und Pontedecimo, ehemalige Dörfer, heute aber Stadtviertel, die von der Industrialisierung stark in Mitleidenschaft gezogen worden sind.
Einige ländliche Siedlungen wie Begato und Garbo (von Rivarolo aus zu erreichen) Brasile (von Bolzaneto) und vereinzelte Villen wie Pa-lazzo Cambiaso in Cremeno auf einem Hügel und die neugotische Villa Serra Pinelli Gentile mit ihrem «englischen» Park (beide von Bolzaneto aus längs des Bachs Secca erreichbar) sind noch erhalten.
Nicht weit davon erheben sich moderne Wohnviertel, über die in den letzten Jahren aufs heftigste debattiert wurde. Die hier empfohlene Rundfahrt überquert beim Bahnhof in Rivarolo den Polcevera und führt einige Kilometer zurück über den Corso Perrone bis zur höher gelegenen Abtei San Micolö del Boschetto.
Diese Kirche wurde anstelle einer früheren Kapelle (1311) errichtet; die Benediktiner (15. Jh.) verwandelten diesen Komplex in ein «Kulturzentrum» unter dem Schutz zahlreicher genuesischer Familien, die hier ihre Grabstätten errichteten.
Die Kapelle San Benedetto und die Gräber Grimaldi, Doria, Spinola (15. und 16. Jahrhundert) sind sehr eindrucksvoll und zweifellos sehenswert.
Zu desolater Industrielandschaft zwischen Öltanks bilden auf der rechten Seite des Flusses die großen Villen Spinola Parodi. Via Ferri 11, Fegino, und Cattaneo Dellepiane dell'OImo (heute Ansaldo AG) al Boschetto absurde Kontraste; ein monumentales Nymphäum Im Rokokostil und noch gut erhaltene Innendekorationen sind traurige Zeugen einer vergangenen Zivilisation, von der kaum mehr eine Spur erhalten ist.
Trotz der Verunstaltung der Landschaft glauben die Genuesen hartnäckig an eine Sanierung dieses Gebiets; ein Bild «heiler Welt» bieten noch die Hügel am rechten Ufer, Corona-ta, Murta, und die Serpentinen, die zum Wallfahrtsort Nostra Signora della Guardia führen.
Vom Gipfel des Monte Figogna (804 m) aus, wo sich diese Kirche mit touristischen Einrichtungen und Herbergen für die Pilger erhebt, scheint das Tal noch unberührt wie ehedem.
Seit 1490 wird hier die Gottesmutter verehrt (die heutige Kirche ist modern), die Talbewohner kämpften hier gegen die Österreicher in den Jahren 1746-48 und in unserem Jahrhundert waren die umliegenden Hügel strategische Verteidigungspunkte der Widerstandskämpfer.
Bereits im Jahre 1637 war die Gottesmutter zur Königin der Stadt proklamiert worden, einer Stadt, in der sich spontane Religiosität mit dem Stolz politischer Unabhängigkeit paarte.